Hochsensibilität als Konzept für besondere Empfindsamkeit ist ein in den letzten Jahren intensiv diskutiertes Thema. Die Definition und Abgrenzung fällt nicht leicht. Häufig beobachtet ist auch das Zusammentreffen von Hochsensibilität und ausgeprägter Angst vor Nähe. Brauchen hochsensible Menschen einfach mehr Abstand und Freiraum? Scheuen sie die Nähe aufgrund der damit verbundenen Reizüberflutung?
Die Angst vor Nähe – woher kommt sie und wie überwinden wir sie?
Bei dem Wort Nähe hat jeder eine andere Vorstellung. Manche verbinden damit vor allem die körperliche Nähe, das Zusammensein mit geliebten Menschen, Berührung und Achtsamkeit. Oder aber die emotionale Nähe, die auf Vertrauen und Verbundenheit beruht.
Es kann aber auch erzwungene Nähe sein, die keinen Ausweg lässt und aufdringlich bis unangenehm sein kann.
Inhalt
Herdentier Mensch
Der Mensch ist ein soziales Wesen und braucht Nähe, um sich entwickeln und wohl fühlen zu können. Schon im Säuglingsalter besteht in der Regel eine starke Bindung zu den Eltern, vor allem der Mutter. Das ist wichtig, denn Babys können noch nicht für sich selbst sorgen und sind auf den Schutz und die Fürsorge der Eltern angewiesen. Diese frühkindlichen Bindungen beeinflussen maßgeblich, wie wir uns im späteren Leben verhalten, ob wir das Vertrauen haben, Beziehungen und Freundschaften einzugehen; welche Anforderungen wir an andere Menschen stellen und wie wir mit Vertrauensbruch und Enttäuschungen umgehen. – Auf der anderen Seite ist das Nähebedürfnis hochsensibler Menschen häufig geringer ausgeprägt.
Isolation, die krank macht
Fast alle Menschen sehnen sich nach Nähe, Geborgenheit und Anerkennung (vgl. Bedürfnis nach Anerkennung). Jemand kann keinerlei materiellen Sorgen haben, eigenes Haus, Auto, gut bezahlter Job… doch ohne ein soziales Netzwerk aus Freunden, Familie und Beziehung droht der Mensch in die Isolation abzudriften. Diese erzwungene Einsamkeit kann zu Krankheiten, wie Depressionen (Wie gehe ich mit depressiven Menschen um?) oder chronische Schmerzen führen. Wer jedoch hochsensibel ist, braucht oftmals mehr Abstand, Ruhe und Einsamkeit für sich und seinen Frieden.
Die Corona-Pandemie lässt uns deutlich spüren, wie der reduzierte Kontakt seine Spuren hinterlässt. Die kleinen Dinge fehlen am Meisten, die Umarmungen, gemeinsame Spaziergänge und Restaurantbesuche. Die kurzen Berührungspunkte, die wir im alltäglichen Leben kaum wahrnehmen, haben größeren Einfluss, als wir zunächst glauben.
Angst in Beziehungen überwinden
Haben wir wenig Vertrauen in einer Beziehung, können daraus Eifersucht und Verlassensängste entstehen, die eine stabile Basis erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Es gibt einige Tricks, mit denen sich die Sache etwas erleichtern lässt:
- Offenheit: Es ist wichtig über die eigenen Sorgen und Ängste zu reden. Außerdem hilft es dem Partner die Situation zu verstehen
- Ehrlichkeit: Es geht nicht nur darum mit dem Partner ehrlich zu sein, sondern besonders mit sich selbst
- Selbstreflektion: Immer mal wieder sich selbst fragen: „Warum fühle ich mich so? Macht es Sinn, dass ich mich so fühle? Wovor habe ich Angst?“, wer sich selbst versteht, kann aktiv an sich arbeiten.
- Grenzen setzten: Grenzen sind wichtig, sie sollten keine undurchdringliche Mauer sein, aber sie können Hilfestellung geben, sich selbst zu schützen und zu verteidigen, sollte sie überschritten werden.
Wenn das Vertrauen fehlt
Das Vertrauen ist uns nicht angeboren, es wird erlernt, wie andere Fähigkeiten auch. Einer wissenschaftlichen Vermutung nach, besitzt der Mensch jedoch eine Art „Ur-Vertrauen“, das bei jedem unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Es bestimmt, wie schnell wir nach einem Rückschlag neues Vertrauen schöpfen und wie tief dieser „Vertrauens-Brunnen“ ist.
Menschen, die eine schwierige Kindheit erlebt haben, denen wenig Zuversicht entgegenkam und die sehr oft enttäuscht wurden, fällt es schwer, später einmal Bindungen einzugehen und Nähe zuzulassen, aus Angst verletzt oder ausgenutzt zu werden. Das ist ganz natürlich und nichts, wofür man sich schämen müsste.
Diese Angst muss ihren Ursprung aber nicht zwingend in der Kindheit haben. Einschneidende Erlebnisse können uns auch im Erwachsenenalter noch prägen und beeinflussen. Sexueller Missbrauch zum Beispiel wird die Betroffenen oft ein Leben lang begleiten.
[Podcast RadioWissen: Bitte berühren! Warum Körperkontakt so wichtig ist]
Berührungsangst
Es gibt eine „gesunde“ Form der Angst vor Nähe. Sie beschützt uns und verhindert, dass wir vorschnell vertrauen und Risiken eingehen. Gerade wenn man in der Vergangenheit in einer Beziehung tief verletzt wurde, ist es ganz sinnvoll, beim nächsten Mal etwas vorsichtiger zu sein. Auf der anderen Seite steht die krankhafte Angst, die Aphephosmophobie (Berührungsangst). Die Betroffenen leiden unter unterschiedlich stark ausgeprägten Angstzuständen, wenn es zur Berührung mit anderen Menschen kommt. Darunter fallen Händeschütteln und Umarmungen, aber auch ungewollte Bewegungen, wie versehentliches Anrempeln.
Es resultieren Herzrasen, Zittern, Schweißausbrüche und andere Stressreaktionen.
Die Aphephosmophobie geht häufig mit einer Sozialphobie einher (Angst vor Menschen, vgl. Sozialphobiker) und kann unterschiedliche Gründe haben, ist aber nicht gleichzusetzen mit der Angst, sich beim Kontakt mit Fremden, mit Krankheiterreger anzustecken.
Menschen mit Berührungsangst erleben einen sehr hohen Leidensdruck, sie können zwar meist Berührungen von sehr nahestehenden Personen ohne Angst aushalten, doch erschwert die aus der Krankheit resultierende Vermeidungshaltung oft den Alltag, den Beruf und beeinträchtigt das allgemeine Wohlbefinden.