Buchtipp: Das Reiss Profile ™ – Die 16 Lebensmotive

Der Untertitel „Welche Werte und Bedürfnisse unserem Verhalten zugrunde liegen“ macht neugierig. Und in der Tat liefert das Buch viele Antworten. Oder möchte man es erst einmal nur „Theorien“ und „Thesen“ nennen? Wer das Buch anfängt zu lesen, wird merken, dass der Autor ziemlich massiv gegen einschlägiges „Wissen“ aus dem Bereich der Psychotherapie vorgeht. Vieles, was Psychologie-Studenten einschlägig lernen über Freud & Co, über „Angststörungen“ und „Zwänge“, über „Psychodynamik“ – vieles davon wird erst einmal hinterfragt bzw. als fragwürdig dargestellt. Das provoziert erst einmal. Beim Lesen mag man anfangs auch etwas verunsichert werden: Denn einerseits beginnt das Buch gleich ziemlich umfangreich damit, dass dargelegt wird, wie sehr die hier im Buch vorgestellten Ideen bzw. das Reiss Profile als Konzept wissenschaftlich belegt sind (valide, reliabel etc.). Den weniger wissenschaftlich geprägten Leser schreckt („törnt“) das zu Beginn der Lektüre potentiell erst einmal ab. Immerhin schafft es aber Vertrauen in die „Wahrheit“ der Aussagen. Warum der Leser dennoch potentiell verwirrt wird: Man liest recht früh im Buch Aussagen und Formulierungen des Autors wie die u.g.:

Obwohl ich nicht weiß, woher unsere Motive kommen, nehme ich an, dass universelle Motive einen genetischen Ursprung haben und durch Erfahrung verändert werden. Mir ist klar, dass es dieser Theorie noch an Details mangelt, aber ich werde trotzdem weitermachen. Ich weiß viel über Motivation und darüber, wie man Menschen mit persönlichen Schwierigkeiten helfen und Verhalten in natürlichen Umgebungen vorhersagen kann. Ich möchte mich nicht bei der Frage nach der Kausalität aufhalten, über die ich nur sehr wenig weiß. Es ist recht ungewöhnlich für einen Psychologen, eine Theorie des Verhaltens zu entwickeln und dabei der Kausalität nur wenig Aufmerksamkeit zu widmen. Trotzdem ist es eine Tatsache, dass wohl fast all jene detaillierten kausalen Theorien, die in der Vergangenheit vorgeschlagen wurden, nicht stimmen. Niemand weiß, was die Ursachen der Persönlichkeit und die Motivation des Menschen sind, aber glücklicherweise können wir bei den Fragen weitermachen, über die wir etwas wissen.

Das klingt für den kritischen Leser, als würde es sich Steven Reiss etwas sehr leicht und bequem machen: Auf der einen Seite streitet er viele verbreitete Ansichten ab, auf der anderen Seite klingt es, als wische er die Forderung nach Fundierung seiner Aussagen mit etwas Rhetorik einfach vom Tisch. Dem ist natürlich nicht so, aber man sollte sich darauf einstellen, mit derlei Irritation bei der Lektüre (erst einmal) konfrontiert zu werden.

Wertvorstellung als Treiber unserer Handlungen, keine unbewusste Psychodynamik?

Wertvorstellungen, nicht eine unbewusste Psychodynamik, sind die Triebkraft für die Psyche der Menschen | Motto dieses Buches

Dieses Zitat bzw. diese Aussage aus dem Beginn des ersten Kapitels fasst schon zusammen, was sowieso recht schnell deutlich wird. Der Autor besteht darauf, dass unser Handeln bzw. das Handeln unserer Mitmenschen durch Werte & Bedürfnisse getrieben ist (nämlich ’seine‘ 16 Lebensmotive) – und streitet (diverse) psychodynamische Theorien ab. Da heißt es in der Einleitung recht lang und breit:

Die Hypothese von der Psychopathologie des Alltagslebens hat weiterhin einen großen Einfluss. Auch in den heiligen Hallen der führenden psychologischen Institute der USA mag Freud tot sein, aber er spielt immer noch eine bedeutsame Rolle in der Eheberatung, in der persönlichen Beratung und in der Psychotherapie. Viele Berater versuchen heutzutage die persönlichen Schwierigkeiten und die Persönlichkeit ihrer Klienten zu verstehen, indem sie Konstrukte verwenden, die entwickelt wurden, um seelische Krankheiten wissenschaftlich zu untersuchen. Sie glauben daran, dass dunkle, unbewusste seelische Triebkräfte, die auf die Kindheit zurückgehen, Persönlichkeitsmerkmale, persönliche Schwierigkeiten und seelische Krankheiten verursachen.

Obwohl viele Experten auf dem Gebiet der Psychodynamik persönliche Schwierigkeiten als leichte Störungen ansehen, bin ich der Auffassung, dass Probleme ein normaler Bestandteil des Lebens sind. Ich werde Argumente dafür liefern, dass persönliche Schwierigkeiten etwas ganz Normales sind, indem ich zeige, dass die zugrunde liegenden Motive etwas ganz Normales sind. Ich werde zeigen, dass viele persönliche Schwierigkeiten durch nicht befriedigte psychologische Bedürfnisse und nicht durch die von Freud geprägten Konstrukte der Angst und Abwehr entstehen. Wenn wir zur Kenntnis nehmen, was normal ist, werden wir aufhören, alles, was im Leben schiefgeht, potenziell als psychiatrische Störung zu behandeln.

Die normale Persönlichkeit

Ich bin der Meinung, dass Wertvorstellungen und nicht eine unbewusste Psychodynamik der Schlüssel zum Verständnis persönlicher Schwierigkeiten bei normal veranlagten Menschen sind. Die Leute sollten aufhören, ihre Eltern oder die unbewussten Anteile ihrer Seele für ihre Schwierigkeiten verantwortlich zu machen; sie sollten aufhören, sich selbst als Opfer ihrer Erziehung zu verstehen. Stattdessen sollten sie sich klarmachen, wie sie durch ihre unerfüllten Wünsche, durch ihre nicht zum Ausdruck gekommenen Wertvorstellungen und durch ihre Wertekonflikte in Schwierigkeiten geraten. Wenn sich die Menschen ihrer selbst stärker bewusst sind, können sie Entscheidungen treffen, die erfüllender sind, die zu einem sinnvolleren Leben und im Laufe der Jahre zu weniger Problemen führen.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich weiß durchaus, dass seelische Krankheiten vorkommen, und ich akzeptiere die Realität psychiatrischer Störungen wie die Schizophrenie und die Panikstörung. Ich bin jedoch nicht mit der psychodynamischen These einverstanden, dass derartige Störungen gemeinsame Ursachen in der Persönlichkeitsentwicklung und in persönlichen Schwierigkeiten haben. Ich lehne das Konstrukt der seelischen Krankheit nicht ab; ich unterscheide zwischen normal und abnormal. Ich denke, dass es normal ist, Probleme zu haben, aber abnormal, eine seelische Krankheit zu haben. Ich denke, dass es bei Persönlichkeit um Individualität geht, nicht um Abnormalität. Ich glaube, dass Freud den Begriff der Motivation missverstanden hat und daher auch das, worum es im Leben eigentlich geht.

Ich lehne die Hypothese der »Psychopathologie des Alltagslebens« ab. Freud war der Auffassung, dass Persönlichkeitsmerkmale durch Angstabbau motiviert sind; im Gegensatz dazu werde ich zeigen, dass Persönlichkeitsmerkmalen in Wirklichkeit eine Vielfalt intrinsischer Wertvorstellungen zugrunde liegen. Die psychodynamischen Theoretiker irren, wenn sie behaupten, dass etwa eine dominante Persönlichkeit durch Angstabbau entsteht. In Wirklichkeit entsteht das Persönlichkeitsmerkmal der Dominanz durch eine überdurchschnittlich starke Bewertung von Kompetenz, Leistung und Willenskraft/Einfluss. Die psychodynamischen Theoretiker irren, wenn sie behaupten, dass Esoteriker auf die orale Stufe der Entwicklung regredieren, um mit ihrer Angst umzugehen. In Wirklichkeit suchen Esoteriker die Interdependenz, weil sie dem Einssein intrinsisch mehr Wert beimessen, als dies beim Durchschnittsmenschen der Fall ist.

Eine ganze Reihe von Psychologen kritisierten in der Vergangenheit die psychodynamischen Persönlichkeitstheorien dafür, dass sie sich zu sehr auf die Abnormalität konzentrieren. Abraham Maslow (1954) legte in seiner humanistischen Psychologie großen Wert auf die Untersuchung seelischer Gesundheit. Heutzutage führt die positive Psychologie ein ähnliches Argument an (Snyder & Lopez, 2002). In der Vergangenheit verlangten die Theoretiker eine Psychologie der normalen Persönlichkeit. In diesem Buch ist es mein Ziel, weit über die Konstrukte »positiv« und »normal« hinauszugehen und eine detaillierte Beschreibung von Persönlichkeitsmerkmalen zu erarbeiten, die keinen Zusammenhang mit seelischer Krankheit aufweisen.

Normale Persönlichkeitsmerkmale sind Gewohnheiten, die Menschen entwickeln, um ihre psychologischen Bedürfnisse zu befriedigen (hier als Grundbedürfnisse bezeichnet). Wissenschaftliche Untersuchungen an einer Vielzahl von Menschen (Reiss & Haverkamp, 1998) kamen zu dem Ergebnis, dass 16 Grundbedürfnisse die Triebkraft für die Seele des Menschen sind und möglicherweise eine breite Vielfalt menschlicher Erfahrungen erklären; das kann alles sein, von Beziehungen über Wertvorstellungen bis zur Kultur. Alle Menschen haben alle 16 Grundbedürfnisse, aber jeder Einzelne misst ihnen eine unterschiedliche Priorität zu (Reiss, 2000a). Welchen Wert ein Individuum jedem der 16 Grundbedürfnisse zuordnet – man bezeichnet es als Reiss Motivation Profile (RMP) –, verrät etwas über seine Wertvorstellungen und seine Persönlichkeitsmerkmale. Wenn ich weiß, welchen Wert ein Mensch den 16 Grundbedürfnissen beimisst und wie er sie zu einem Ganzen vereint, kann ich mit statistisch bedeutsamer Validität die Persönlichkeitsmerkmale, die Wertvorstellungen, die Beziehungen und das Verhalten in Situationen des realen Lebens vorhersagen. Das Reiss Motivation Profile liefert eine detaillierte Beschreibung der menschlichen Motivation; es zeigt detailliert die Zusammenhänge zwischen Motiven, Wertvorstellungen und vielen normalen Persönlichkeitsmerkmalen auf.

Die Motivationsanalyse beruht auf evaluierten, wissenschaftlich validen Untersuchungen zu der Frage, was Menschen motiviert (Reiss & Havercamp, 1998) (…)

Das obige lange Zitat aus der Einführung zu „Das Reiss Profile“ gibt also die Marschrichtung vor, die der Autor nimmt. Wir wollen das in der Rezension nicht negativ klingen lassen; es mag viele provozieren, und gleichzeitig macht es das Buch natürlich interessant.

Was sind die 16 Lebensmotive im Reiss Profil?

 

  • Anerkennung
  • Beziehungen
  • Ehre
  • Eros
  • Essen
  • Familie
  • Idealismus
  • Körperliche Aktivität
  • Macht
  • Neugiert
  • Ordnung
  • Rache
  • Ruhe
  • Sparen
  • Status
  • Unabhängigkeit

 

 

Wer diese 16 Lebensmotive fragwürdig findet, wird die Lektüre dennoch spannend finden – und am Ende vielleicht doch überzeugt sein, dass das Steven Reiss Profil (s)einen Sinn hat…

Zitate aus diesem Buch:

Verärgerung ist ein wechselseitiger Vorgang: Die Gewohnheiten desorganisierter Menschen verärgern wohlorganisierte Leute und vice versa. Tatsache ist, dass wohlorganisierte und desorganisierte Menschen entgegengesetzte Wertvorstellungen haben. Desorganisierte Menschen verärgern wohlorganisierte Menschen, wenn sie ein Durcheinander hinterlassen; und wohlorganisierte Menschen verärgern desorganisierte Menschen, wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf Trivialitäten richten. Ärger kommt in diesen Beispielen aufgrund eines Wertekonflikts auf (Ordnung im Gegensatz zu Spontaneität), nicht aufgrund von Analerotik, Reaktionsbildung, Psychopathologie und dergleichen. Ärger ist erst dann vorhanden, wenn sich eine Person so verhalten hat, dass dies nicht im Einklang mit den Wertvorstellungen des anderen stand. (mehr …)

Inhaltsverzeichnis (Auszug)

  1. Vorwort
  2. Überblick
  3. 1 Meine Frau meint, mit mir stimmt etwas nicht
  4. 2 Die 16 Grundbedürfnisse
  5. 3 Die Ausprägung der grundlegenden Motivation
  6. 4 Normale Persönlichkeitstypen
  7. 5 Bewältigung persönlicher Schwierigkeiten
  8. 6 Sechs Gründe für zu schlechte Leistungen bei Jugendlichen
  9. 7 Selbstbezogenheit und der persönliche blinde Fleck
  10. 8 Beziehungen
  11. 9 Neuinterpretation der Persönlichkeitstypen nach Myers-Briggs
  12. 10 Die 16 Motivationsprinzipien
  13. Anhang A. Wörterbuch der normalen Persönlichkeitsmerkmale
  14. Anhang B. Selbsteinschätzung nach dem Reiss Motivation Profile Estimator
  15. Anhang C. Die 16 Grundbedürfnisse auf einen Blick

Offizielle Buchbeschreibung

Was ist Ihnen wichtig, was treibt Sie an? Was macht Sie glücklich? Wo kollidieren Wertvorstellungen in Ihnen oder in Ihrem Verhältnis zu anderen? – Das Verständnis der 16 Lebensmotive kann Sie in diesen Fragen weiterbringen. In seinem aktuellsten Buch (USA 2008) zeigt Steven Reiss, wie sich die Ausprägung bestimmter Lebensmotive auf die Persönlichkeit und auf Beziehungen auswirkt und wie man diese Kenntnisse berufl ich und privat, in der Beratung, bei Jugendlichen, in Paarbeziehungen und in der alltäglichen Interaktion nutzen kann.

Über den Autor: Steven Reiss ist Professor für Psychologie und Psychiatrie an der Ohio State University und Direktor des Nisonger Center für Mental Retardation. Seine Forschungsarbeiten wurden durch zahlreiche amerikanische Auszeichnungen gewürdigt und in mehr als 35 Sprachen übersetzt. Prof. Reiss ist Begründer der Reiss Profile Motivationsanalyse.

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