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Tendenz zur Übersteuerung – verstehen und einkalkulieren

Übersteuern und ins Schleudern geraten (© WoGi / Fotolia)

Warum wir ständig gegensteuern müssen

Alles könnte so einfach sein, wenn wir es mit unseren Handlungen, Eingriffen und Veränderungen nicht immer übertreiben würden. Viele Projekte, Steuerungsmaßnahmen und Veränderungseingriffe erzielen nur deshalb nicht die erwarteten Ergebnisse, weil eben die Eigendynamik und die Schwerfälligkeit/Trägheit von Systemen und Systembestandteilen mangelhaft berücksichtigt wird.

Das dahinter liegende Prinzip der menschlichen Tendenz, zu übersteuern, lässt sich am einfachsten am Beispiel eines Schiffskapitäns verständlich machen. Wer schon einmal ein Boot geführt hat, bei Motorbooten noch mehr als bei Segelbooten, kennt die verzögerte Wirkung des Ruderlegens.

Beispiel: Ruderlegen bei Booten

Wenn Sie bei einem Motorboot das Ruder („Lenkrad“) einschlagen, erfolgt die Richtungsänderung meist mit einer kurzen Verzögerung. Diese Verzögerung ist umso höher, je stärker die gewünschte Richtungsänderung ist. Wenn Sie zum Beispiel das Motorboot gerade nach backbord steuern (links) und plötzlich eine Kehrtwende nach steuerbord (rechts) machen wollen, dauert es je nach Bootsgeschwindigkeit eine ganze Weile, bis die gewünschte Richtungsänderung erfolgt. Die Trägheit des Bootes im Wasser ist so enorm, das Sie möglicherweise noch einige Meter zurücklegen, bis Sie tatsächlich die gewünschte Richtung einschlagen.

Anfänger, die wenig Erfahrung am Ruder haben, neigen instinktiv dazu, das Ruder weiter und weiter einzuschlagen, weil das Boot nicht gleich reagiert. Wenn es dann aber spürbar die bisherige Fahrtroute verlässt und nach Steuerbord einschlägt, geht dies meist – verglichen zur vorher trägen Kursänderung – enorm schnell. Schneller, als es die meisten Anfänger erwarten und zudem auch weiter, als erwartet und gewollt. Schnell wird deshalb das Ruder wieder herumgerissen, mit dem gleichen Effekt…

Das Syndrom der Übersteuerung

Was sich am Beispiel des Steuern eines Bootes hervorragend veranschaulichen lässt, hat in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft enorme Auswirkungen. Menschen, deren Fähigkeit zu systemischem Denken noch nicht so ausgeprägt ist, leiden genau an diesem Syndrom der Übersteuerung: Sie sehen auf Basis einer IST-Analyse, dass die aktuelle Situation gemessen an Werten, Zielen und Notwendigkeiten nicht angemessen ist und dass etwas verändert werden muss. Da sie es „gut meinen“, wollen sie es „gleich richtig machen“ und greifen konsequent zu abrupten Maßnahmen. Dies geschieht aber meist, ohne sich der Fernwirkungen der Entscheidung bewusst zu sein und meist auch ohne der Eigendynamik von System und Situation Rechnung zu tragen.

Der Schweinezyklus

Beispiel: Mitarbeiter entlasse vs. händeringend Mitarbeiter suchen Weil der Gewinn gerade so niedrig oder nicht vorhanden ist, werden schnell und resolut Stellen abgebaut und die darauf befindlichen Mitarbeiter „freigesetzt“. Je mehr Leute man los wird, umso besser. Oftmals ist das kein „gesund schrumpfen“, sondern die Unternehmen „sparen sich dabei zu Tode“. Nach der spontan aus der IST-Analyse angesetzten und konsequent durchgesetzten Verschlankungskur bleiben plötzlich nicht mehr genug Leute übrig, um bei einer verbesserten Auftragslage die Kunden zu bedienen und die Bestellungen abzuarbeiten. Plötzlich werden wieder in großem Umfang Stellen ausgeschrieben. Da die Mehrzahl der Marktteilnehmer so handelt, müssen neue Angestellte und potentielle High Potentials nun wieder teuer umworben werden. Die großen Beratungen fangen an, Segelevents im Mittelmeer für Doktoranden, Cocktail-Empfänge für Top-Absolventen zu veranstalten usw.

Beispiel: Übersteuerung bei Aktienkursen; Pendeln zwischen überzogenen ExtremenNoch besser lässt sich die menschliche Tendenz zur Übersteuerung an jedem Aktienkurs-Chart oder Aktienindex-Chart ablesen. Da Auf und Ab der Kurse ist nichts anderes als ein Übersteuern der Kurse in beide Richtungen. Je riskanter eine Anlage, umso volatiler (schwankungsbreiter) ist in der Regel auch ihr Kurs. Die Irrationalität vieler Anleger, der Herdentrieb von Investoren, die Bildung von Börseneuphorien und Aktienmarktblasen, Kurs-Stürze und Börsen-Crashs – sie alle haben etwas mit Psychologie von Anlegern und der Tendenz zur Übersteuerung zu tun. – Wer dieses Wissen nutzt und weiter denkt, landet häufig bei Konzepten wie „Antizyklisch Investieren“. Nicht umsonst lautet ein alter Börsenrat „Kaufen, wenn die Kanonen donnern“ oder „Buy on bad news“. Für den Bereich der Soft Skills und des systemischen Denkens lässt sich das gut übertragen: Wenn alle einstimmig in eine Richtung marschieren, wenn das Ruder spontan und hart in eine Richtung geschlagen wird, könnte es Zeit sein, die Stimme für das Gegenteil zu erheben und Maßnahmen zu ergreifen, welcher die Übersteuerung dämpfen. Nichts anderes macht häufig auch die Politik oder machen die Notenbanken, wenn Sie Wirtschaftsdepression mit Zinssenkungen begegnen und überschwängliche Konjunktur mit einer Erhöhung der Zinsen drosseln.

Zusammenfassung: Tendenz zur Übersteuerung

  • Menschen neigen dazu, bei Handlungen für Veränderungen, Richtungsänderungen und Steuerungsmaßnahmen regelmäßig zu übersteuern.
  • Die Tendenz, bei Eingriffen zu übersteuern, resultiert unter anderem aus der Missachtung der Eigendynamik und Trägheit von Systemen.
  • Wer Übersteuerungshandlungen durchschaut, kann deren Folgen durch antizyklisches Handeln dämpfen.

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