www.soft-skills.com »

Die subtile rhetorische Wirkung des Wörtchens „noch“

Noch ist es nicht passiert. Aber es könnte bald. (© bluedesign / Fotolia)

Subtile Bedrohungsrhetorik mit „noch“

Es gibt Dinge, die wirken so subtil, dass sie Menschen im Alltag kaum auffallen. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb werden sie so oft und gern eingesetzt. Von Journalisten in den Medien, von Politikern in Wahlkampfreden und von Verkäufern im Beratungsgespräch. Ein Beispiel für solch subtile Rhetorik findet sich im Wort „noch“.

Worum es geht? Schauen Sie sich einmal die folgenden Sätze an, frei aus verschiedenen Zeitungen und Reden:

Beispiele

  • Absolventen haben in dieser Branche noch gute Einstiegs-Chancen. [Aber nicht mehr lange…!]
  • Diese Monitore sind noch lieferbar. [kaufen Sie besser jetzt vor dem Weihnachts-Run…!]
  • Im Moment sind günstige Grundstücke noch zu haben. [Bald werden Ihnen die besten vor der Nase weggeschnappt sein…!]
  • Interessierte können sich noch für eine Teilnahme bewerben. [Aber nicht mehr lange…!]
  • Aktuell bekommen Sie das Gerät noch zum Einführungspreis… [Sie sind selbst Schuld, wenn Sie später mehr bezahlen…!]
  • Das Gewinnspiel läuft noch. [Nehmen Sie lieber gleich teil…!]
  • Rhetorik wirkt noch

Was passiert hier? Die Aussagen mit dem Wort „noch“ suggerieren, ohne dass das explizit ausgesprochen und / oder bewiesen wird, eine anstehende Veränderung. Meist wird dieses Wort genutzt, um dem Publikum eine negative Änderung anzudeuten.

Diese rhetorische Technik – so man den Einsatz eines einzelnen Wortes schon als Technik bezeichnen möchte – lässt sich hervorragend in Argumentationen verwenden. Muster: „Es ist wichtig, dass wir … machen. NOCH ist es zwar so, dass …, aber [bald] …, und deshalb müssen wir …“

Das Konzept hinter dem bewussten Einsatz von „noch“

Die Idee, die dahinter steckt, ist so einfach wie wirksam, und kaum jemand widerspricht der angeblichen Bedrohung, der angeblichen Änderung. Im Zweifel hat der Sprecher hat ja auch nie explizit behauptet, DASS sich dieses/jenes ändern werde. Er hat lediglich den Fakt geschildert, dass etwas aktuell noch so oder so ist. Und damit sind wir bei der genannten, subtilen rhetorischen Feinheit.

Weitere Beispiele

  • Noch kommt der Weihnachtsmann ja zu den meisten Kindern, aber…
  • Noch sind die meisten Kinder gesund…
  • Noch ist die Zahl der akquirierten Kunden zufriedenstellend…
  • Die Umsätze sind noch auf einem hohen Niveau…
  • Noch hat der Täter nicht erneut zugeschlagen…
  • Menschen lassen sich so noch manipulieren

Das lässt sich entsprechend auf die Spitze treiben und wird dann natürlich eher amüsant bis grotesk. Einzeln platziert und geschickt in eine Argumentation eingebaut merken wir jedoch meist gar nicht, wie subtil hier mit rhetorischen Mitteln gearbeitet wird, um uns in eine bestimmte Richtung zu drängen.

Da werden Bedrohungen, anstehende Veränderungen aufgeschäumt – und dies dann als Argumentationsbasis für was auch immer missbraucht, um die Notwendigkeit zu zeigen, dass jetzt ZYX getan werden muss. Halten Sie die Ohren offen, wie oft das Wort „noch“ in Ihrem Alltag in der beschriebenen Weise genutzt wird – und nutzen Sie es vielleicht einmal selbst, um die Wirkung live zu testen. Die meisten Menschen durchschauen es noch nicht…

… aber jetzt schreibt auch die Zeitung darüber:

„Seit einigen Wochen erleben wir eine Art journalistischer Adventszeit. Alle harren auf den großen Knall, den Aufschrei der islamischen Massen. Erst wegen der „Idomeneo“-Aufführung und dann, weil deutsche Soldaten in Afghanistan mit alten Knochen posiert haben. ‚Die befürchteten Unruhen sind bislang ausgeblieben‘, wunderte sich die ‚Bild‘-Zeitung am Montag. Auf ‚Spiegel Online‘ war zu lesen: ‚Noch schweigen die Terror-Websites nach der Totenkopfaffäre. Möglich, dass dies nur die Ruhe vor dem Sturm ist.‘ Offenbar haben Bombenleger in Kabul, religiöse Hooligans in Islamabad und Hassprediger in Riad andere Empörungslaunen als deutsche Redaktionen. Was bilden die sich eigentlich ein? Sind wir weniger wichtig als die Dänen?
Um aus keiner Nachricht einen knalligen Artikel zu stricken, bedarf es nur einiger kleiner semantischer Accessoires. Man beachte in den obigen Zitaten die Wörtchen „bislang“ und „noch“. Sie gehören zum unverzichtbaren Formulierungszubehör engagierter Adventsjournalisten. ‚Noch‘ ist ein kleiner sprachlicher Tausendsassa, mit dem sich die tollsten Effekte erzielen lassen. Nehmen wir einen Beispielsatz: ‚Vor der Küste Floridas tummeln sich Delfine‘. Er klingt irgendwie zu gut und könnte aus einem Reisekatalog stammen. Fügen wir also unsere kleine Wunderwaffe ein: ‚Vor der Küste Floridas tummeln sich NOCH Delfine.“ Da weiß der Leser doch gleich Bescheid, Meeresverschmutzung und Klimaerwärmung werden diese Idylle bald zerstören.
Das Schöne an der Formulierung ist, dass wir unsere Mahnung mit keinerlei Fakten untermauern müssen. Ähnlich, wenn sich vor der Küste Floridas ‚die letzten‘ Delfine tummeln. Da leuchtet jedem sofort ein, dass sie bedroht sind. Will der Autor sich gegen eventuelle Einsprüche von Fachleuten absichern, sollte er von der ’schleichenden Bedrohung der letzten Delfine‘ berichten. Da schwingt sofort die Sorge um die kommende Generation mit. Ob Fettleibigkeit, Vogelgrippe oder Unterschichtsfernsehen: Unsere kleinen semantischen Helfer lassen sich bei allen Themen in allen Ressorts nützlich einsetzen…“


Diese Kolumne passt so schön zum Thema; daher habe ich mir erlaubt, sie hier auszugsweise zu zitieren. Entnommen aus: „Adventsjournalismus – Warten auf den großen Knall / Von Maxeiner & Miersch“. Die Welt, Freitag 3. November 2006, Seite 9.

Schlagworte: ,